Hallo zusammen!
💥 Ich liebe Headlines, die knallen. In all meinen Jobs war ich früher oder später Zeilen-Beauftragte. Beim SPIEGEL habe ich viel Lebenszeit damit zugebracht, Zeilen auf der Homepage A/B zu testen. Ich wollte den goldenen Klick finden: Wie zieht man über Zeile und Teaser mehr Menschen in eine Geschichte, ohne zu clickbaiten oder zu viel zu versprechen.
Diese Folge von „How to Story“ heißt „How to BILD“ weil ich an einem Beispiel zeigen will, wie eine gute Boulevardzeile gemacht wird.
Über Gefühle reden
📰 2005 war ich Anfang 20 und absolvierte ein Praktikum in einer Lokalredaktion der BILD. 2005 war das Jahr, in dem die Arbeitslosenzahlen auf Rekordniveau stiegen: über 5%. Der damalige Chefredakteur fragte die Redaktion: „Was glaubt ihr, wie geht es den Leuten damit? Haben die jetzt Angst, ihren Job zu verlieren?“ Ein Redakteur sagte: „Nein, ich glaube, die sind wütend.“
😡 Und hiermit waren die Leitplanken für die Berichterstattung gelegt: BILD suchte nach Verantwortlichen, nach Schuldigen, auf die die Leute wütend sein können. Wäre man der Prämisse gefolgt, dass die Leute Angst haben, wäre die Berichterstattung in eine andere Richtung gegangen. Welche Jobs bedroht sind, wer bald auf der Straße sitzt, wie man sich gegen Kündigungen wehren kann und so weiter und so fort.
Doch so wurde entschieden, dass erstmal die Praktikantin (➡️ ich) mit dem Fotografen zur Arbeitsagentur loszieht. Dort sollte ich unter einem Vorwand die Agentur betreten und mir die Angestellten angucken. Damit ich sie wiedererkenne, wenn sie nach Hause gehen und der Fotograf sie ablichten kann. Die mögliche Zeile: „Hier verlässt ein Jobvermittler VOR FEIERABEND das Büro! Wie kann das sein, bei 5 Millionen Arbeitslosen?!“
Die Geschichte ist niemals erschienen.
Was können wir davon lernen?
☝️ Man sollte Leuten, die einfach nur ihren Job machen, nicht auflauern. Schon gar nicht, um sie zur Projektionsfläche eines Gefühls zu machen, für das sie nichts können. Was man als Publisher aber durchaus machen sollte: Sich fragen, wie es der Zielgruppe gerade geht. Ist sie wütend, traurig, ängstlich oder resigniert? Die Antwort muss gnadenlos ehrlich sein. Dann kann man sich fragen, ob man durch seine Kommunikation eine Emotion bestärken, umwandeln oder auflösen will.
Mehr dazu hier.
Der Abend, an dem die Ampel zerbrach
🚦Stellt euch vor, es ist der 06. November 2024 und ihr sitzt im Newsroom. Gerade kommt die Meldung, dass Olaf Scholz nicht mehr mit Finanzminister Christian Lindner arbeiten will. Stellt euch vor, die Chefredakteurin fragt euch: „Wie geht es den Leuten damit? Haben die jetzt Angst, dass unser Land führungslos ins Chaos schlittert?“ Ich glaube nicht. Die Antworten könnten ungefähr so lauten: „Die Leute sind froh, dass es vorbei ist.“ „Erleichtert.“ „Befreit.“ „Endlich hat dieses zermürbende Hin und Her ein Ende.“ „Gottseidank"!”
Ist es möglich, all diese Gefühle in eine kurze Zeile zu packen? Ja! Es gab nämlich schon mal eine Situation, in der das ganze Land all diese Gefühle fühlte: Anspannung, Genervtheit, Erleichterung, Euphorie.
Das Wunder von …
⚽️ Genau: Bern. Das war 1956. Damals schoss sich Deutschland in einem spektakulären Finale gegen Ungarn bei der Fußballweltmeisterschaft zum Sieg. Eine Hängepartie mit Erlösungsmoment. Legendär der damalige Kommentator Herbert Zimmermann: „Aus! Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!!“
Meine Lieblingszeile zum Ampeldrama kommt von BILD:
(06. November, 22.22 Uhr)
🔝 Ich finde es brillant. Diese Referenz ist eine emotionale Metapher. Man spielt die Wunder-von-Bern-Gefühle an, weil sie so ähnlich zum Ampel-Drama sind. Da muss man erstmal drauf kommen.
Wie kommt man drauf? Chefreporter Peter Tiede hat mir am Telefon erzählt, dass er und Hans-Jörg Vehlewald rumgealbert haben. Einer hat gerufen: „Die Ampel ist aus, aus, aus!“ Woraufhin der Andere spontan Zimmermann zitierte: „Rahn müsste schießen! Und Rahn schießt!“ Der Rest ergab sich von selbst.
Ja, die Zeile setzt etwas voraus. Aber die BILD-Leserschaft ist eher älter und eher männlich. Ich hätte mir diese Zeile auf dem Titel gewünscht. Stattdessen wurde es „Der Ampel-Crash“. Kann man machen. Ist aber keine Seite, die man sich einrahmt. Schade eigentlich.
Positives Framing Blablabla in der Politik
Was man in der politischen Kommunikation daraus lernen kann? Beim zweiten Lockdown im November 2020 lief die Kulturbranche Sturm. Es gab Brandbriefe und virale Videos, in denen sich Kulturschaffende an die Politik richteten. Klassischerweise wünscht man sich in der Politik nun ein „positives Framing“, das ungefähr so klingt: „Warum dieser Lockdown richtig und wichtig ist“.
Ich habe es als Leiterin des Newsrooms im Willy-Brandt-Haus anders gemacht. Leute, die Angst haben oder wütend sind, wollen nicht mit parolenhaftem Framing-Blabla belästigt werden. Sie wollen gehört und ernst genommen werden. Ich habe Olaf Scholz also vors Mikrofon gesetzt und ihm die wütenden und verzweifelten Sprachnachrichten der Menschen vorgespielt. Und statt von oben herab zu erklären, warum dieser Lockdown richtig und wichtig ist, lautet die Kommunikation zu diesem Podcast auf allen Kanälen:
Es ist keine besondere journalistische Zeile. Aber in der politischen Kommunikation ist sie ungewohnt. Auch diese Zeilen habe ich A/B getestet. (Clickthrough rate dreimal höher beim negativen Framing.) Ich konnte außerdem nachweisen, dass wir damit Zielgruppen erreicht haben, die wir sonst selten erreichen. Weil der Podcast von Kulturblogs und Kulturschaffenden direkt geteilt wurde. Das hätten sie mit der anderen Zeile wohl kaum gemacht. Manchmal muss man sich eben entscheiden: Framingblabla oder Leute erreichen.
Meine Ampelzeile wäre übrigens gewesen:
Ich habe einfach überlegt, ob Olaf Scholz mal irgendwas knackiges gesagt hat, was man irgendwie verwenden kann. Und weil die Liste, nunja, überschaubar ist, landet man schnell beim WUMMS. Natürlich nicht so gut, wie die emotionale Metapher.
Letzter kleiner Funfact, den die meisten Medien für eine geile Zeile ignoriert haben: Der Bundeskanzler entlässt keine Minister:innen. Das tut der Bundespräsident. ☺️
In diesem Sinne: Bucht mich, wenn ihr in einem Zeilenworkshop lernen wollt, wie ihr aus euren Themen Headlines formulieren könnt, die knallen.
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Ok, ich habe zwei Fehler in diese ganze Fußballnummer reingedreht. Gut, dass ich keine Sportjournalistin geworden bin!
Jetzt kann auch die BILD nicht mehr ignorieren, was in der FDP alles schiefgegangen ist